Versuch eines Perspektivwechsels
Ausmisten wird vor jedem Umzug empfohlen und ergibt ja durchaus Sinn: warum sollte man Dinge von A nach B schleppen, die man eigentlich gar nicht braucht ? Sinnlose Energieverschwendung. Außerdem: durch das Einpacken hat man sowieso jedes noch so versteckte Teil des Haushalts einmal in der Hand, kann also ohne viel Aufwand überprüfen, ob man das Teil behalten oder entsorgen möchte.
Neben dem praktischen Aspekt hat Ausmisten auch einen psychologischen Effekt- Marie Kondo lässt grüßen : wir sortieren uns auch innerlich, werfen Ballast ab, geben uns durch ein Weniger mehr Raum. Soweit die Welt der Erwachsenen. Aber ist das auch bei Kindern so?
An diesem Punkt stehen wir gerade- genau 113 Tage (dank Maßband-Countdown kann ich das so genau sagen) vor unserem Umzug.
"Ein Umzug bedeutet für alle Beteiligten Entwurzelung. Wie bei einem Baum, den man umpflanzen möchte."Golrokh Esmaili
Stand der Forschung
Die Wissenschaft ist sich einig: der Mensch ist ein Gewohnheitstier - genauer gesagt unser Gehirn. Die Forschung hat herausgefunden, dass unser Gehirn -und davon vor allem die Basalganglien- sehr sparsam arbeiten und dadurch sehr gerne all unser Tun möglichst schnell in Routinehandlungen umwandeln wollen. Es wird sogar durch Ausschüttung von Opiaten belohnt, wenn wir eine Alltagssituation routiniert meistern. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir wissen wie wir unseren Nachbarn jeden Tag grüßen, dass wir wissen wieviel Fahrzeit wir um dieselbe Uhrzeit in die Arbeit brauchen, dass wir beim Einkaufen unsere gewohnte Route durch den Supermarkt haben und sogar unseren Einkaufszettel danach ausrichten usw. Viele haben eine sogenannte Morgenroutine und eine Bettgehroutine. Sie helfen uns, den Tag entspannt zu beginnen und zu beenden. Viele Erziehungsratgeber empfehlen deswegen auch diese Routinen bei Kindern, um einen sichere Hafen im turbulenten Alltag der Kinder zu schaffen. Die Forschungsergebnisse geben den Erziehungsratgebern Recht: Alltagsroutinen geben Kindern nachweislich Sicherheit und Kraft, um dann andere Herausforderungen besser zu meistern.
Wir fühlen uns daher in gewohnter Umgebung wohl, weil wir unsere Alltagsroutinen überwiegend im Zusammenhang mit gewohnter Umgebung umsetzen können.
In einer neuen Umgebung in einem neuen Land, werden erst einmal alle Gewohnheiten über den Haufen geworfen, müssen an die neue Situation angepasst werden oder ganz aufgegeben werden, weil sie im neuen Alltag nicht umsetzbar oder keinen Sinn mehr ergeben . Diese Umstellung empfinden wir als anstrengend und das ist sie auch. Für unser Gehirn und für die Basalganglien im Besonderen. Wir sind bestrebt wieder eine Routine entstehen zu lassen.
Vielleicht ist euch aufgefallen, dass man auf die Frage "Und, habt ihr euch schon eingelebt?" meist erst dann mit "Ja" antwortet, wenn sich eine gewisse Routine im Alltag wieder eingestellt hat...
Routine und Verlässlichkeit stehen bei rund 80% der Menschen hoch im Kurs- allerdings bei 20% auch nicht. Mit etwas Glück haben also einige Familienmitglieder bei euch weniger Probleme, sich von Gewohntem zu verabschieden und Neues anzunehmen. Für die anderen Familienangehörigen, denen das nicht so leicht fällt, gibt es aber durchaus Möglichkeiten, die Umstellungen abzufedern und eine sichere Basis zu schaffen, um das Neue besser annehmen zu können.
Veränderung annehmen- Eine Frage der Balance
Ein Umzug - und dann auch noch ins Ausland- nimmt in großen Teilen Sicherheit: innerlich (gewohnte Wohnumgebung) und äußerlich erst recht (neue Umgebung, neue Nachbarschaft, neue Sprache, neue Schule, neue Ärzte, neue Einkaufsmöglichkeiten, neue Verkehrsregeln). Als Eltern kann es helfen die Balance zwischen Veränderung und Stabilität im Innen und Außen im Blick zu behalten. Was bedeutet das genau?
Bei einem Umzug innerhalb derselben Stadt bleibt äußerlich Vieles gleich. Vielleicht kann sogar dieselbe Schule oder derselbe Kindergarten weiter besucht werden. Es ist daher nicht unbedingt notwendig auch im Innen- also der neuen Wohnung- Stabilität zu schaffen.
Bei einem Umzug ins Ausland sieht es etwas anders aus. Das gesamte äußere Umfeld hat sich enorm verändert. Nun ist es wichtig, dazu ein Gegengewicht im Inneren zu schaffen, um eine ausgleichende Balance herzustellen. Das heißt, möglichst wenig im Hinblick auf Möbel, Spielzeug, Rituale , Gewohnheiten zu verändern. Dabei reicht es aus, wenn von Allem das Wichtigste möglichst erhalten bleibt: das Lieblingsmöbelstück (bei uns ist das beispielsweise der geliebte Sitzsack), das Lieblingsspielzeug, das Lieblingskuscheltier, die Lieblingstasse oder- müslischüssel, die wichtigsten Rituale (auf das Thema Rituale gehe ich in diesem Blogartikel genauer ein), die wichtigsten Gewohnheiten....usw. Manchmal ist auch das nicht möglich. Dann hilft es gemeinsam Ersatzgewohnheiten oder -rituale zu etablieren. Das ist aufwendiger als Altbewährtes zu übernehmen aber schafft auf Dauer auch die Sicherheit, die es braucht, um offen auf das Neue im neuen Heimatland zuzugehen.
Was hat das nun alles mit dem Thema Ausmisten zu tun?
Auch Kinder ziehen sich gerne in Gewohntes und Altbewährtes zurück. Das hilft, dem Neuen gestärkt und gewappnet entgegen zu treten. Plötzlich gibt die Vertrautheit des eigenen, bereits jahrelang genutzten, Bettes Sicherheit. Die Spielzeuge- auch bereits ausgediente- bekommen plötzlich wieder mehr Aufmerksamkeit, werden wieder vermehrt bespielt, weil sie die Sicherheit vergangener Zeiten bieten. Übrigens ist in diesem Zusammenhang ein Rückzug in alte, bereits abgelegte Verhaltensmuster durchaus normal. Oft wird das von uns Eltern als Rückschritt empfunden. Aber wie sagt man so schön: man muss manchmal einen Schritt zurücktreten um zwei Schritte nach vorne gehen zu können.
"Nur wer bereit ist, einen Schritt zurück zu gehen, findet auch wieder den richtigen Weg nach vorn."
JOACHIM PANTEN
Um unseren Kindern also eine sichere Basis zu geben, von der aus sie die neue Lebenswelt erkunden können, sollten wir eine allzu große Veränderung der unmittelbaren Lebensumgebung durch ausmisten verzichten. Das fällt uns Erwachsenen dann doch oft schwerer als gedacht.
Wie also allen Bedürfnissen gerecht werden? Dem oben beschriebenen Bedürfnis der Erwachsenen, Ballast abzuwerfen und dem Bedürfnis der Kinder ein paar Schritte zurückzugehen und Altes hervorzukramen, um darin Sicherheit zu finden?
Am Ende reicht es vielleicht, wenn wir Eltern uns damit zufrieden geben unsere Dinge auszumisten und das Kinderzimmer außen vor lassen. Wir verzichten damit nicht auf die reinigende Wirkung des Ausmistens, nehmen dadurch unseren Kindern aber auch nicht die Möglichkeit sich in Altes, Vertrautes zurückzuziehen und so ihre innere Balance wieder herzustellen. Dabei bei der restlichen Wohnungseinrichtung darauf achten, auch Lieblingsdinge und Lieblingsplätze der Kinder mit zu denken und gegebenenfalls nicht auszusortieren.
Eine andere Möglichkeit wäre, deutlich vor dem Umzugstermin die Kinderzimmer auszumisten, also mindestens drei Monate vorher satt in der Woche vor dem Umzug. Die Kinder haben so genügend Zeit diese Veränderung zu akzeptieren bevor die nächste große Veränderung, der Umzug, ansteht.
Alternativ kann man die Kinderzimmer auch erst ausmisten, wenn man sich in der neuen Heimat eingelebt hat. Wenn genügend Alltagsroutine etabliert wurde und wieder genügend Sicherheit bei unseren Kindern vorhanden ist, um die Veränderung durch Ausmisten besser anzunehmen.
Wie immer entscheiden wir als Eltern was am Besten zu unserer Familie und dem einzelnen Kind passt, denn wir kennen unsere Kinder schließlich am Besten. Im Zweifel oder bei sehr kurzfristigem Umzugstermin sollten wir in Erwägung ziehen lieber alles zu behalten und erst dann auszumisten, wenn wir uns am neuen Wohnort eingelebt haben. Ein Rückzug in altes Verhalten ist meist zu erwarten, dadurch wird auch wieder längst verstaubtes Spielzeug aktuell.
Und zu guter Letzt: gute Vorsätze und anderer Erwachsenenkram...
Ein Umzug ist für uns Erwachsene ein guter Zeitpunkt neben dem Ausmisten auch alte, nicht mehr gewollte Gewohnheiten abzulegen und neue, gute Vorsätze wie an Neujahr zu fassen.
Das trifft jedoch nicht unbedingt aus der Perspektive der Kinder zu. Wie oben bereits erwähnt, fallen Kinder oftmals in alte Verhaltensmuster zurück, um sich in Zeiten von Veränderung zu stabilisieren. Plötzlich wird wieder der Schnuller, die Windel oder verstärkt die Mama oder der Papa benötigt, um mit der enormen Veränderung klar zu kommen. Mit dem Umzug den nächsten Entwicklungsschritt mit dem Kind zu wagen- also Schnuller oder Windeln wegzulassen, von Stillen auf Brei umstellen, es in Fremdbetreuung zu geben weil Abnabelung als nächster Entwicklungsschritt ansteht-wird für das Kind zur doppelten Belastung. Wenn man also die Wahl hat zwischen einem Weiter-wie-bisher oder dem Den-nächsten- Entwicklungsschritt-einläuten, dann deuten alle Studien bisher darauf hin, dass es für das Kind stressfreier ist, den nächsten Entwicklungsschritt nicht zusätzlich herbei zu zwingen. Im Gegenteil: mental sollten wir uns sogar auf einen vorübergehenden(!) Rückschritt in der Entwicklung einstellen.
Doch nun nochmal kurz zurück zum Thema Ausmisten. Am Ende wie immer ein kleiner Einblick in unsere Familie und wie wir als Eltern versuchen die gewonnen Erkenntnisse in den Alltag umzusetzen.
Wie wir diese Erkenntnisse in der Praxis gerade umsetzen
Wenn der Umzug feststeht, packt vor allem mich in der Familie die Ausmistwut. Ich kann mich da kaum zurück halten. Ich glaube es ist meine Art, die Kontrolle im anrollenden Chaos zu behalten und aufkommende Unsicherheit auszuhalten. So nach dem Motto: zumindest den Hausstand habe ich im Griff! Auch bei den Kinderzimmern kann ich mich da leider nicht zurückhalten. Ich versuche daher wenigstens meine Kinder miteinzubeziehen und nichts auszumisten, was sie nicht auch ausmisten wollen. Das Ausmisten der Kinderzimmer habe ich auch dieses Mal ganz früh gelegt- nämlich jetzt in den Osterferien. Da sind es noch über 100 Tage, also gute 3 Monate bis zum Umzugstermin. Außerdem muss ja Platz geschafft werden für neue Dinge, die vielleicht der Osterhase bringt oder Oma und Opa zum Geburtstag im Sommer. Meine Große hat tatsächlich ordentlich ausgemistet. Sie bekommt mehrmals im Jahr den Drang auszumisten und hat wenig Probleme sich von Dingen zu trennen. Beim Kleinen lief es etwas verhaltener, aber das ist auch in Ordnung. Er konnte sich besser trennen, wenn er wusste, dass die Sachen einem Nachbarskind oder der Cousine weiter vermacht werden. Auch einer Spende des Dreirads an den Kindergarten konnte er zustimmen. So unterschiedlich können Kinder also sein...
Eine Frage die uns auch noch etwas umtreibt ist, dass unser Sohn eigentlich bald ein neues Bett benötigt. Er hat noch ein Kleinkindbett und wird dem bis spätestens Herbst entwachsen sein. Die einfachste Lösung aus logistischer Sicht wäre, das Kinderbett hier am Umzugstag Ende Juli von der Umzugsfirma entsorgen zu lassen und in den USA ein neues normales Bett anzuschaffen. Aus pädagogischer oder psychologischer Sicht birgt dieses Vorgehen, wie wir ja jetzt wissen, auch Risiken: das Bett als gewohnter und sicherer Rückzugsort fällt in einer Zeit des Umbruchs weg. Natürlich kann ich nicht mit Sicherheit sagen, dass das wirklich schlimm für meinen Sohn sein könnte- aber möchte ich es riskieren? Wir überlegen nun, bereits jetzt ein neues, größeres Bett anzuschaffen, damit er sich schon einmal daran gewöhnen kann. Das alte Kinderbett könnte dann solange im Keller stehen und dann von der Umzugsfirma entsorgt werden. Allerdings sind wir nicht ganz sicher, ob wir es in nächster Zeit noch ins Möbelhaus schaffen.
Bleibt noch die Option Nummer 2: das Bett zu kaufen, wenn wir in den USA sind und uns eingelebt haben. Das könnte dann gut und gerne erst um Weihnachten herum sein. könnte etwas eng werden beim Schlafen, wenn Sohnemann so weiter wächst wie bisher und wir müssten das Bett drüben irgendwie selbst entsorgen. Klingt auch ok. Wir versuchen jetzt aber erstmal Option 1 hinzubekommen, denn das wäre die erste Wahl. Falls das nicht rechtzeitig zu schaffen ist, weichen wir auf Option 2 aus. Definitiv nicht in Frage kommt für uns die logistisch einfachste Variante des Bettentauschs direkt während des Umzugs. Das Risiko, dass unser Sohn dann vielleicht doch mehr daran zu knabbern hat als wir dachten, wollen wir nicht eingehen.
So sieht das also derzeit bei uns aus. Im nächsten Blogartikel gebe ich ein paar Einblicke in unsere anderen Umzugsvorbereitungen und wie wir versuchen, die Kinder mit einzubeziehen.