Ankommen und Ankommen sind zwei paar Stiefel
Physisch an einem neuen Ort anzukommen ist eine klar definierte, zeitlich begrenzte Aktion: sobald ich mit einem Fuß den Boden der neuen Heimat unter den Füßen habe, bin ich körperlich angekommen. Wir tippen schnell ein paar Zeilen an die Lieben zu Hause :"Sind gut angekommen!" und meinen natürlich "körperlich unversehrt", denn wir sind noch lange nicht ganzheitlich angekommen. Mental hängen wir gerade zwischen den Stühlen und das wird noch eine Weile so bleiben.
Aber wann kommt eigentlich der Moment, an dem wir sagen können: "Jetzt bin ich wirklich angekommen!" und fühlen wir uns dann schon zu Hause? Was macht ein zu Hause aus? Und ist es dasselbe wie Heimat? Und können eigentlich alle Familienmitglieder gleichzeitig ankommen? Kann man den Moment des mentalen Ankommens für alle gleichzeitig planen?
Fragen über Fragen- das hat philosophieren so an sich. Ich versuche hier mal ein paar Denkanstöße ohne Wahrheitsanspruch oder gar philosophischer Brilianz zu geben (ich bin ja auch Sozialpädagogin und keine Philosophin):
Mental ankommen, was heißt das?
Viele interkulturelle Trainings, die ich kenne, fokussieren auf eine gute Vorbereitung, um das Einleben zu erleichtern. Ganz nach dem Motto "Je besser die Vorbereitung, desto besser gestaltet sich das Ankommen bzw. Einleben." Das ist sicherlich richtig, aber nur ein Teil im großen Puzzle des Ankommens.
Um mental anzukommen muss man mental abgeschlossen haben- das legen auch Studien aus der Trauerarbeit und Traumatherapie nahe. Hängt man noch in der Vergangenheit fest und konnte man noch nicht loslassen, fällt ein Neuanfang schwer. Daher kann man nicht oft genug betonen wie wichtig das Zelebrieren eines Abschieds für alle Familienmitglieder ist. Ich habe zum Thema Abschied eigens einen Blogartikel verfasst, den ihr hier lesen könnt.
Ein weiteres Puzzlestück zum mentalen Ankommen sind sich einspielenden Routinen. Routinen sind immer ortsgebunden und können - im Gegensatz zu Ritualen- nicht mitgenommen werden (lest dazu auch meinen Blogartikel zum Thema Routinen und Rituale). Routinen sind also nicht von Anfang an vorhanden. Wir müssen sie uns erst erarbeiten, beispielsweise durch Recherchen: wo möchte ich meinen Wocheneinkauf tätigen, was sind die besten Schul- und Arbeitswege, usw. Routinen etablieren heißt "sich einleben". Hat sich der Alltag eingespielt und haben sich bestimmte Dinge automatisiert, sinkt das Stresslevel. Denn eine Aufgabe von Routinen ist es, uns durch Automatisierung den Alltag zu erleichtern, indem wir nicht mehr darüber nachdenken müssen wie wir etwas tun sondern es einfach- "ganz routiniert"wie man so schön sagt- tun. Das Stresslevel sinkt, wir kommen zur Ruhe und viele beantworten nun die Frage "Habt ihr euch schon eingelebt?" mit ja.
Doch hier kommt schon die nächste Differenzierung: bedeutet "sich eingelebt haben" automatisch, sich zu Hause zu fühlen? Für manche Menschen vielleicht schon, andere brauchen noch etwas mehr als reine Routine, um sich zu Hause zu fühlen. Soziale Kontakte und ein Sich-wohlfühlen in der neuen Umgebung und der neuen Kultur gehören für viele ebenfalls dazu. Mental Ankommen und sich "zu Hause" fühlen fallen also nicht zwangsläufig zusammen. Das hängt ganz vom subjektiven Empfinden ab und von vielen weiteren kleinen Puzzleteilen, die sich bei jedem ganz individuell zusammensetzen und dann das große Bild vom "Zuhause" ergeben. Und genau das macht es oft schwierig, als Familie anzukommen. Da jedes Familienmitglied seinen ganz individuelles Ankommenspuzzle hat, braucht jedes Familienmitglied unterschiedlich lange sich sein Bild vom Zuhause zusammen zu setzen. Es kann sogar sein, dass ein Familienmitglied sein Puzzle nie fertig bekommt, weil ein wichtiges Teil fehlt.
Wir müssen als Eltern also nicht nur die Illusion über Bord werfen, dass wir als Familie, also alle Familienmitglieder gleichzeitig, mental ankommen sondern auch die Illusion , dass wir im gleichen Maße gut ankommen. Dennoch sollten wir zumindest darauf hinarbeiten, dass alle gleichermaßen gut ankommen können. Denn die gute Nachricht ist: das gleiche Maß kann man besser steuern als den gleichen Zeitpunkt.
Wie schaffen wir, dass alle gleichermaßen ankommen?
Die übergeordnete Frage für jedes Familienmitglied lautet: was brauche ich, um mich zu Hause zu fühlen? Mit größeren Kindern können wir die Frage schon gut besprechen, bei kleineren Kindern ist es Aufgabe von uns Eltern, uns in unsere Kinder hineinzuversetzen und diese Fragen stellvertretend so gut wir können zu beantworten. Mit den folgenden Dinge liegen wir auf jeden Fall nicht falsch, egal wie unterschiedlich wir alle ticken:
Wie schaffen wir "ein Zuhause"
1. Persönliche Dinge, die für uns persönlich von Bedeutung sind.
2. Rituale, die für uns persönlich von Bedeutung sind
3. Wertschätzung meiner Person
Auch wenn wir in ein möbliertes Haus ziehen, ist es wichtig persönliche Dinge mitzunehmen und aufzustellen. Es müssen nicht viele persönliche Gegenstände sein, aber welche, die von persönlicher Bedeutung sind. Es kann eine Herausforderung sein, das im Vorhinein eines Umzugs festzulegen, aber wenn wir uns die Zeit nehmen uns darüber Gedanken zu machen, bekommen wir erstaunlich schnell ein klares Bild davon, was uns wichtig ist.
Dasselbe gilt für Rituale. Ein Brainstorming hilft dabei zu entscheiden, welche Rituale uns wichtig sind und deshalb "mitgenommen" werden müssen, um das Leben im neuen Haus zu einem Leben im neuen Zuhause zu machen.
Zwei weitere Stützpfeiler die wir unseren Kindern bieten können, damit sie sich schneller zu Hause fühlen sind: bedingungslose Liebe und angenommen sein. Das klingt abgedroschen. Wertschätzung ist aber gerade für Expatkinder besonders wichtig. Warum? Weil Wertschätzung die Rückversicherung ist, dass wir so wie wir sind ,in Ordnung sind. Auch wenn die "Welt da draußen", also die neue Kultur und all die Veränderungen, die mit einem Umzug einhergehen, gerade so gar nicht zusammenpassen wollen. Mit dieser Wertschätzung schaffen wir für unsere Kinder die Stabilität und den sicheren Hafen, von dem aus sie alles Neue erkunden können. Bedingungslose Liebe und angenommen sein bilden den sicheren Hafen, an dem man sein darf wie und wer man ist. Ein sicherer Hafen kann schnell ein neues zu Hause werden, weil man sich aufgehoben und geborgen fühlt.
Bleibt noch die letzte Frage: kann ein sicherer Hafen dazu beitragen, dass sich ein Heimatgefühl einstellt?
Wie schaffen wir Heimat
Tja, wie schaffen wir für unsere Kinder ein Gefühl von Heimat? Ich tappe hier leider auch noch im Dunkeln. Ich selbst bin an einem Ort geboren und aufgewachsen und erst mit 27 Jahren zur Nomadin geworden. Heimat und Heimatgefühl waren einfach da. Ist für mich gebunden an einen Ort und gebunden an Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend an eben diesem Ort.
Allerdings: je mehr ich mich mit dem Thema Heimat auseinandersetze , desto mehr komme ich zu dem Schluß, den viele Third Culture Kids schon seit Geburt quasi in sich tragen:
Heimat ist im Gegensatz zum Zuhause kein Ort, sondern ein Gefühl.
Die Lektüre von Anselm Grüns Buch "Wo ich zu Hause bin" hat mich hier auch weitergebracht. Trotz des religiösen Backrounds habe ich auch einige gute, allgemein gültige Ansätze darin gefunden.
Besonders bewegt hat mich der Ansatz, dass man Heimat nur in sich selbst finden kann. Wie das genau aussehen kann, ist mir auch noch nicht ganz klar. Aber es hat sich mir die Frage gestellt, ob wir als Eltern für unsere Kinder überhaupt so etwas wie Heimat schaffen können. Oder ob das etwas ist, was unsere Kinder nur für sich selbst finden können. Vielleicht sind uns Eltern hier die Hände gebunden und wir können maximal dazu beitragen unseren Kindern ein zu Hause zu schaffen. Das Heimatgefühl liegt vielleicht außerhalb unseres Einflussgebiets.
Wie läuft das bei uns?
Dementsprechend versuche ich für meine Kinder an jedem neuen Wohnort ein zu Hause zu schaffen durch Rituale, Wertschätzung und zulassen aller Gefühlslagen. Beim Thema Heimat stehe ich momentan so, dass ich glaube, dass sich die Frage der Heimat parallel zur Frage der eigenen Identität stellen wird, die ab der Pubertät Hauptthema sein wird (siehe dazu Eriksons Theorie der Entwicklungsaufgaben). Die Einflussmöglichkeiten als Eltern sind dann beschränkt- zu Recht, denn die Kinder sollen sich ja zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickeln. Ein Reinreden seitens der Eltern wäre da kontraproduktiv. Immer ein offenes Ohr zu haben ist womöglich das Einzige, was man seinen Kindern in dieser Zeit anbieten kann.
Aber noch ist es nicht soweit und vielleicht bekomme ich in den nächsten Jahren noch ein differenzierteres Bild zum Thema "Wie vermittle ich Heimatgefühl". Im Moment kann ich hierzu allerdings nicht mehr liefern. Ich denke, es ist ok auch als ausgebildete Sozialpädagogin hier mal zur Abwechslung keinen Rat zu wissen.
Wenn ihr mit euren Kindern zum Thema Heimat ins Gespräch kommen wollt, lege ich euch mein Buch vom kleinen Hasen Löwenzahn, der die Heimat sucht ans Herz. Das Buch ist so konzipiert, dass es keine entgültige Antwort vorgibt, sondern verschiedene Konzepte von Heimat vorstellt und so zu weiterführenden Gesprächen anregt.