Einen Moment, den viele Expateltern kennen
Erst vor ein paar Tagen hatte mein Sohn seinen letzten Preschooltag. Hier in den USA ist es üblich, dass es eine kleine Graduation Ceremony gibt, wie später am College: mit der typischen Huttracht und einem Graduation Certificate. Ich machte selbstverständlich ein Foto und schickte es per WhatApp an die Großeltern in Deutschland mit folgendem Text: "In den USA wird das erfolgreiche Absolvieren der Kindergartenzeit honoriert. Hier ist Sohnemann mit seinen Pre-K Graduation Utensilien. Zum Schulanfang wird es aber trotzdem auch eine typisch deutsche Schultüte für ihn geben."
Tja, und da war er wieder der Moment wo sich zwei Kulturen und ihre Erziehungsansätze überschneiden. In den USA feiert man rückblickend die erfolgreiche Kindergartenzeit und sendet die Kinder so mit einem guten Polster an Selbstvertrauen in die Schule. In Deutschland macht man den Einschulungstag zu etwas Besonderem und versüsst den Schritt nach Vorne in eine neue Entwicklungsphase mit der Schultüte, garniert mit dem Gefühl für das Kind, Teil von etwas Besonderem zu sein. Zur Schule zu gehen und Lernen zu dürfen ist eine Ehre.
Und mir stellt sich wieder die Frage: sich für eine Form entscheiden (Graduation oder Schultüte) oder beide Kulturen nebeneinander stehen lassen (Graduation und Schultüte)- nach dem Motto : doppelt hält besser? Unbewusst habe ich mich schon für letzteres entschieden und das dann ja per WhatApp kundgetan. In solchen Situationen befinde ich mich bewusst oder unbewusst häufig und ich glaube, den meisten Expateltern geht auch es so.
Kultur ist Erziehung und umgekehrt
In ihrem Buch "Third Culture Kids- Aufwachsen in mehreren Kulturen" schreiben Ruth Van Reken und David Pollock, dass Eltern, Gemeinschaft, Schule und Gleichaltrige allesamt teilhaben an der kulturellen Prägung. Eltern geben sowohl die kulturellen Normen "über der Wasserlinie" als auch die "unter der Wasserlinie" auf verschiedene Weise weiter. Sie tun das durch ihr Beispiel, indem sie sich etwa zu einer Geschäftsbescprechung anders anziehen als für ein Tennismatch oder indem sie über andere respektvoll reden. Sie tun es auch Korrektur: "Kau nicht mit offenem Mund." Wenn du nicht aufhörst deinen Bruder zu hauen musst du wohl eine Weile in deiner Zimmer gehen." Oder sie tun es durch Lob: "Das ist aber lieb von dir, dass du deine Schwester mit den Sachen spielen lässt!" (Pollock/Van Reken, Seite 57)
Auch die Gemeinschaft prägt kulturell. Durch Traditionen, Regeln, Gesetze, Missbilligung nicht erwünschten Verhaltens bis hin zur sozialen Ächtung. Wenn Gleichaltrige miteinander spielen, ahmen sie instinktiv die kulturellen Regeln nach. (Pollock/Van Reken, Seite 61)
Und auch die Schule ist kulturell geprägt. Denn obwohl Kultur nicht aus Büchern gelehrt wird, entwickelt sich kein Bildungssystem in einem kulturellen Vakuum. Lehrplan und Unterrichtsmethoden spiegeln unmittelbar dir kulturellen Werte und Überzeugungen der Gesellschaft wider.(Pollock/Van Reken, Seite 59)
Die Herausforderung, die Erziehung wieder in Einklang zu bringen
Expateltern stehen also immer wieder vor der Herausforderung, dass ihre Kinder tagsüber in der Schule und mit Gleichaltrigen andere Werte und Normen kennenlernen und übernehmen als Zuhause durch die Eltern vermittelt werden die von der Heimatkultur im Entsendeland geprägt sind. Das muss nicht negativ sein. Es kann sogar sehr bereichernd sein. Die Kinder lernen, dass es nicht die eine wahre Art und Weise gibt die Dinge zu sehen und anzugehen. Andererseits kann es aber auch vorkommen, dass die Erziehung im neuen Land 180 Grad konträr zu den Zuhause vermittelten Werten steht. Im Idealfall haben sich die Eltern schon vor der Zusage zur Entsendung Gedanken dazu gemacht, ob sie mit der Erziehungskultur im Gastland klar kommen.
Kommen wir damit klar, dass unser Kind vor allem daran gemessen wird, wie gut es auswendig lernen kann (so erlebt in Belgien)? Kommen wir damit klar dass Individualität nicht groß geschrieben wird, sondern das Einfügen in eine Gruppe (so gehört von einer befreundeten Familie aus China)? Kommen wir damit klar, dass unser Kind mit seinem Alter in dem Gastland nicht dieselben Freiheiten genießt wie im Heimatland, weil Supervision hier auch bei älteren Kindern in der vierten Klasse noch an der Tagesordnung ist (unsere Erfahrung momentan hier in den USA)? Und kommt unser Kind damit klar?
Natürlich kann man nicht alles im Voraus in Betracht ziehen, da viele Werte und Normen sich erst durch das Leben im Ausland erschließen. Und in der Regel arrangieren wir uns auch irgendwie damit und unsere Kinder ebenfalls. Oder, auch eine Möglichkeit: wir bleiben in unserer Expatbubble
So oder so: es ist ein weiterer Teil der, neben dem Einleben vor Ort (wo finde ich was für das alltägliche Leben?)und dem mehr oder weniger heftigen Kulturschock, zusätzlich Energie raubt, besonders wenn man unter zusätzlichem sozialen Druck steht, weil das eigene Erziehungsverhalten von den anderen Eltern beäugt und bewertet wird.
Hier hilft es , seinen eigenen Erziehungsstil unter die Lupe zu nehmen: Warum habe ich bisher so erzogen, wie ich erziehe? Welche Werte und Normen will ich meinem Kind damit vermitteln und warum? In welchen Bereichen bereichert es mein Kind, mehr als nur meinen Erziehungsstil zu erfahren? Wo kann ich meinen Erziehungsstil an die Erziehung im Gastland anpassen, weil ich den Ansatz gut und übernehmenswert finde? Welche Werte und Normen aus meiner Erziehung möchte ich auf keinen Fall aufgeben und werde sie auch gegen die landläufige Meinung im Gastland und eventuelle Wiederstände mit dem dazugehörigen Erziehungsstil weiter vermitteln? Oft hilft auch ein Coaching, solche Fragen für sich zu klären- bei Bedarf dürft ihr gerne auf mich zukommen.
Wenn wir als Eltern Klarheit über diese Fragen haben, profitieren auch unsere Kinder davon. Im Gegensatz zu Expats die ohne Kinder im Ausland leben, haben wir als Expateltern ein weiteres Feld zu beackern. Das Feld der Erziehung. Aber der Einblick in die verschiedenen kulturellen Erziehungsstile und die Auseinandersetzung damit kann auch wahnsinnig bereichernd sein. Es bringt uns so nahe an den Kern der verschiedenen Kulturen, wie kaum ein anderes Feld. In der Erziehung finden sich die Grundwerte und Normen einer jeden Kultur. Ihre Überzeugungen, Grundannahmen und Verhaltensmuster. Wir müssen nur genau hinschauen und uns nicht zu erwachsen sein auch einmal naiv nachzufragen, warum und mit welchem Ziel etwas gemacht wird oder diese Regeln aufgestellt wurden. In der Regel wird diese Nachfrage im Rahmen des "Ausländerbonus" wohlwollend beantwortet. Es kommen oft erstaunliche und erhellende Antworten.
So haben wir als Eltern oft tiefere Einblicke in die Gastkultur als so mancher Expat der ohne Kinder im Land ist. Am Ende kann es sein, dass der Aufwand die eigene Erziehung mit der Erziehung im Gastland in Einklang zu bringen nicht nur einen Mehrwert für unsere Kinder bringt, sondern auch für uns Eltern.