Als ich Informationen zum Thema Kulturschock für meine Familienunterstützungsprogramme zusammengetragen habe, ist es mir wieder mal aufgefallen: das Thema Kulturschock wird vor allem negativ dargestellt. Nicht nur das- auch der Begriff an sich beschreibt nur ungenügend, um was es sich wirklich handelt. Ich habe daraufhin beschlossen, dass ich mit diesem Blogartikel gerne die Aufmerksamkeit auf die Aspekte des Kulturschocks lenken möchte, die nicht so viel Beachtung erfahren oder gar ganz unter den Tisch fallen.
Kulturschock- eine irreführende Bezeichnung
IKUD Seminare- dort habe ich übrigens meine Ausbildung zur zertifizierten interkulturellen Trainerin abgeschlossen -haben einen schönen Beitrag zum Thema Kulturschock veröffentlicht auf den ich mich im folgenden beziehen werde. IKUD fasst am Ende des ausführlichen Beitrags passend zusammen:
"Kulturschock“ – dieser Begriff impliziert einen relativ kurzen, dafür aber umso heftigeren Zustand. In Wirklichkeit handelt es sich allerdings eher um einen länger währenden Prozess, der im Durchschnitt zwischen fünf und zehn Wochen andauert.29
„Kulturschock“ zeigt sich als ein Phänomen, das vor allem durch das Fehlen gewohnter Umstände ausgelöst wird, wobei verschiedenste Aspekte einen unerwarteten Auslöser darstellen können. Während es allerdings noch relativ einfach sein kann, sich auf äußere, offensichtliche Umstände einzustellen, wie z.B. die schlechtere Infrastruktur oder das ungewohnte Essen, können vor allem der Kontakt mit Menschen aus der anderen Kultur und fehlgeschlagene, missverständliche Kommunikationsversuche einen „Kulturschock“ auslösen." (IKUD Seminare Göttingen, Kulturschock, "Definition und Beispiele",https://www.ikud-seminare.de/veroeffentlichungen/kulturschock.html, abgerufen am 15.01.2021)
Soviel zur Begrifflichkeit. Kulturschock trifft uns nicht wie der Blitz. Er baut sich langsam über mehrere Tage oder Wochen auf.
Kulturschock- der Übeltäter
Und ja, es stimmt, der Kulturschock macht sich vor allem durch negative Empfindungen bemerkbar und im Extremfall kann er einen ganz schön aus der Bahn werfen, bis hin zu Depressionen und dem allseits gefürchteten "Abbruch der Auslandsentsendung". Das möchte natürlich keiner. Und so ist es kein Wunder, dass als logische Konsequenz gilt, ebendiesen Kulturschock so gut es geht zu vermeiden. Überall findet man Informationen dazu, woran man ihn erkennen kann und wie man entgegenwirken kann oder am Besten: ihn von Anfang an vermeiden kann. Dabei ist aus meiner Sicht fraglich, ob ein Kulturschock überhaupt komplett verhindert werden kann bzw. verhindert werden sollte. Meiner Meinung nach geht es eher darum ihn zu überwinden. Überwinden und vermeiden sind zwei ganz verschiedene Ansätze. Aber dazu später mehr.
Jetzt erst einmal noch weiter im Text zum Thema, warum ein Kulturschock schlecht ist. Das liegt vor allem an den Symptomen, die überwiegend als negativ empfunden werden.
Einen Kulturschock erkennt man beispielsweise an folgenden Merkmalen:
Heimweh
erhöhtes Schlafbedürfnis
erhöhtes Hygienebedürfnis
Essstörungen (zu viel oder zu wenig)
Angst und Misstrauen
Rückzug oder gar Depression
Überreaktionen
Feindseligkeit gegenüber dem neuen Land und den Menschen
Natürlich helfen gewisse Strategien und Präventionsmaßnahmen das Erleben des Kulturschocks etwas abzuschwächen. Dazu gehören zum Beispiel das vorzeitige Erlernen der Sprache, eine interkulturelle Vorbereitung, die einem die Gepflogenheiten und Lebensweise im neuen Land näher bringt und eine möglichst offene Erwartungshaltung.
Trotzdem wird es zu einem kleinen Kulturschock kommen, denn all die Vorbereitung kann, wie ich glaube, trotzdem in so kurzer Zeit vor einem Umzug nicht alles abdecken, was uns in der neuen Heimat erwartet.
Die gute Nachricht ist aber: muss es auch nicht. Denn der Kulturschock hat auch seine guten Seiten.
Die "gute Seite" des Kulturschocks
Furnham und Borchner haben sich mit dem Thema Kulturschock wissenschaftlich beschäftigt und dabei auch positive Effekte entdeckt. In kleinen Dosen kann der Kulturschock, laut den beiden Forschern, auch anregend wirken und gibt uns die Möglichkeit uns neue Sichtweisen und Verhaltensweisen anzueignen und bringt uns damit in unserer Persönlichkeitsentwicklung weiter.
Ich würde sogar soweit gehen und behaupten, sogar das "negative" Ergebnis davon (also Verhaltensweisen und Sichtweisen "auszuprobieren und dann ablehnen", weil man festgestellt hat, dass die alten Sichtweisen und Verhaltensweisen doch besser zu einem passen) hat einen positiven Effekt: es lässt uns klarer sehen, warum die alte Verhaltensweisen und Sichtweisen zu uns passen und stärkt so unsere Selbstreflexion. Wir können selbstbewusster auftreten.
Noch einen Schritt weiter als Furnham und Borchner geht Elisabeth Marx, die den Kulturschock als Teil eines gelungenen Eingliederungsprozesses sieht. Sie zitiert sogar eine Studie, die gezeigt hat, dass die Expats die über die meiste Eigenreflexion und die höchste emotionale Kompetenz verfügten, den Kulturschock intensiver wahrnahmen und genau deswegen sich später auch erfolgreicher eingegliedert haben. Sie bezeichnet den Kulturschock daher als ein positives Zeichen im Anpassungsprozess im neuen Land.
Wie können wir uns nun das vorhandene positive Potential des Kulturschocks zunutze machen?
Hier möchte ich nun nochmal auf den bereits eingangs erwähnten Unterschied zwischen "Kulturschock vermeiden" und "Kulturschock überwinden" zurückkommen.
Vermeiden heißt für mich alles dafür zu tun, dass der ungewünschte Effekt nicht auftritt und die verbleibenden oder auftretenden kleinen Anzeichen dafür unbeachtet beiseite zu schieben.
Überwinden beinhaltet für mich, sich mit etwas vollumfänglich auseinanderzusetzen, um es dadurch, dass man es besser kennengelernt hat, zu überwinden.
Durch Ersteres schöpfen wir nicht das komplette Potential, das in einer Kulturschockerfahrung liegt, aus. Statt uns auch mit den kleinen Anzeichen auseinander zu setzten und Bewältigungsstrategien dafür zu entwickeln schieben wir sie lieber beiseite oder nehmen sie unbewusst gar nicht erst wahr. Damit nehmen wir uns die Möglichkeit uns durch Herausforderungen weiter zu entwickeln.
Mit Achtsamkeit das Potential des Kulturschocks nutzen
Wenn wir aber auch kleine Anzeichen wahrnehmen und uns vollumfänglich damit auseinandersetzen, dann haben wir davon den größten Benefit:
1. wir entwickeln uns persönlich weiter
2. wir finden unseren Platz in der neuen Heimat schneller
3. wir werden resilienter
Dieses Wahrnehmen auch kleiner Anzeichen erfordert von uns Achtsamkeit.
Achtsamkeit ist eine Form von Konzentration, bei der man wahrnimmt was ist, ohne zu urteilen.
Es ist quasi ein Blick von oben auf das momentane Geschehen. Ein anderes schönes Bild ist "einen Schritt zurücktreten" und die Situation von außen zu betrachten. Dadurch können wir besser analysieren, was gerade vorgeht und wo wir dabei stehen. Diese Analyse gibt uns wiederum die Möglichkeit unser Verhalten, unsere Sichtweisen oder unsere Glaubenssätze zu überdenken und gegebenenfalls anzupassen. Wir finden dadurch leichter Möglichkeiten uns zu integrieren. Wir bleiben durch Achtsamkeit in der Situation handlungsfähig und wachsen an den Herausforderungen- persönlich was unseren Charakter betrifft, aber auch was unsere Resilienz betrifft. Denn dadurch, dass wir uns handlungsfähig fühlen, sehen die neuen Herausforderungen für uns machbar aus. Das erhöht unsere Zuversicht und senkt unser Stresslevel. Wir sind resilienter. Wir können neu erlernte Handlungsweisen und Sichtweisen für uns nutzen und dauerhaft beibehalten. Wir erweitern damit unser persönliches Repertoire an Bewältigungsstrategien. Auch das führt zu mehr Resilienz.
So gesehen brauchen wir den Kulturschock nicht unbedingt zu fürchten, sondern wir können ihn vielleicht sogar ein bisschen willkommen heißen, um mit ihm persönlich zu wachsen. Wer sich das nicht alleine zutraut, der kann sich einen Expatcoach wie mich (und viele andere) an die Seite holen und sich selbst oder die Kinder bei diesem Wachstumsprozess professionell begleiten lassen.
Wie haben wir als Familie den Kulturschock in den USA erlebt?
Mein Mann hat ihn vor allem in Form von Missverständnissen in der Kommunikation an seinem Arbeitsplatz erlebt.
Bei mir fiel der Kulturschock leider mit dem Beginn der Corona Pandemie zusammen und ich hatte das Gefühl, dass er dadurch verstärkt wurde. Schon vor Ausbruch der Pandemie (ca.4 Monate nach Einreise) hatte ich das Gefühl an eine Art gläserne Decke zu stoßen: die Amerikaner sind sehr freundlich und zugewandt und man kann leicht Kontakte knüpfen. Diese waren aber sehr oberflächlich und ich hatte das Gefühl, dass ich nicht tiefer vordringen konnte und das knüpfen von Freundschaften stellte sich für mich als schwierig dar. Wie bei einer gläsernen Denke merkte ich, dass ich nicht weiter kam, konnte aber auch nicht erkennen woran das genau lag. Ohne soziales Netz und mit nur einigen Bekanntschaften schlitterten wir als Familie in die Pandemie. Ich hatte großes Heimweh und merkte dass ich sehr dünnhäutig geworden war. Ich reagierte häufig ängstlicher als sonst oder genervter als sonst. Ich habe mich auch gefragt, ob der Umzug die richtige Entscheidung gewesen ist.
Die Kinder hatten anfangs nach unserer Einreise einen unbändigen Hunger. Das Gehirn hat wohl sehr viel Energie benötigt, um all die neuen Eindrücke zu verarbeiten. Sie haben auch viel mehr gemalt als sonst, um die Eindrücke zu verarbeiten. Deshalb auch mein Tipp an alle neuausgewanderten Expateltern mit Kindergarten- und Grundschulkindern: richtet eine kleine Malecke mit Buntstiften und weißem Papier im neue Zuhause ein. Die Kinder werden sie vermutlich vor allem anfangs vermehrt in Anspruch nehmen. Wenn ihr interessiert nachfragt, was die Kinder da gemalt haben, könnt ihr interessante Einblicke in ihre Gedankenwelt erhalten und drüber was sie gerade bewegt.
Natürlich war da auch Wut, die vor allem durch die anfängliche Sprachbarriere verursacht wurde. Die Kinder haben wenig verstanden und konnten sich und ihre Bedürfnisse noch weniger in der neuen Sprache ausdrücken. Das war frustrierend, denn es verletzte das Grundbedürfnis jedes Menschen verstanden zu werden. Und Heimweh war natürlich auch ein Thema, besonders als noch keine neuen Freundschaften geknüpft waren, die Pandemie hinzukam und das Alleinseins deutlich hervortrat.
Nun sind wir seit 16 Monaten hier in den USA und gefühlt alle angekommen. Der Kulturschock ist überwunden- die Pandemie wird uns leider noch etwas länger begleiten.